Renate Behr
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Leseprobe aus "Der Fluch von Fort Henry"


Prolog    

23. Juni 1859 – Fort Henry, Kingston, Ontario, Kanada   

Colonel Peter James, der Kommandeur von Fort Henry, stützte den Kopf in die Hände. Er war verzweifelt. Seine Frau Elisabeth würde sterben, und zwar schon sehr bald, wenn nicht ein Wunder geschah. Genau das hatte der alte Arzt ihm vor ein paar Minuten gesagt. »Colonel, es tut mir leid. Es gibt keine Hoffnung für Ihre Frau. Sie sehen es ja selbst, jeden Tag wird sie schwächer. Ich kann nichts mehr für sie tun.«

Wunder waren selten in der Welt, in der er lebte, hier in der kanadischen Wildnis. Aber Peter James wollte es einfach nicht wahrhaben. Dreißig lange Jahre hatte er Tisch und Bett mit Elisabeth geteilt. Zwei Söhne hatte sie ihm geboren. Beide lebten wieder in der alten Heimat, drüben in England. Dort hatten sie die Schule besucht und waren geblieben. Elisabeth hatte es klaglos hingenommen, jedoch jetzt wusste er, dass sie es nie verwunden hatte. Manchmal, wenn sie dachte, er würde es nicht bemerken, hatte sie geweint. Er wusste, dass Elisabeth Heimweh nach England hatte. Immer wieder hatte er sie vertröstet. Bald, hatte er gesagt, bald werde ich abgelöst und dann fahren wir heim. Aber es war nie dazu gekommen und nun war es zu spät. Sie würde England und die beiden so schmerzlich vermissten Söhne nie wiedersehen.

  Aber vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung? Er dachte an ein Gespräch, dass er belauscht hatte. Ein junger Corporal hatte sich mit einem indianischen Fährtensucher unterhalten. Der hatte von einem Weisen, einem Schamanen seines Stammes erzählt, der schon viele Wunder vollbracht hatte. Eigentlich glaubte Peter James nicht an solchen Humbug, aber er war verzweifelt. Konnte es schaden? Vermutlich nicht! Vielleicht würde es ja aber funktionieren, auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass es so etwas eigentlich völlig unmöglich war. Er stand auf. Gleich morgen früh wollte er sich nach dem Schamanen erkundigen. Und dann würde man weitersehen.  

Der alte Indianer sah den Colonel an. »Du suchst nach Hoffnung, wo es keine mehr gibt. Und nun, wo alles für dich ausweglos erscheint, greifst du nach dem letzten Strohhalm. Du hättest früher zu mir kommen sollen.« Der Colonel wollte aufbegehren, dann zuckte er nur resigniert mit den Schultern. »Ich weiß, warum du erst jetzt kommst. Dir fehlt der Glaube in die Kraft der Geister. Aber eure Medizin ist machtlos, wenn die Seele erkrankt. Bring deine Frau heute nach Einbruch der Dunkelheit hierher. Ich werde das tanzende Zelt für sie aufbauen.« »Das tanzende Zelt? Was meinst du damit?« Der Schamane lächelte leicht. »Ich werde versuchen, die guten Geister deiner Frau um Hilfe zu bitten. Ich hoffe für sie, dass es noch nicht zu spät ist. Wenn meine Macht versagt, ist es deine Schuld. Du hättest früher kommen müssen.«

Peter James erhob sich. Er wusste, dass er seine Frau hierher würde tragen müssen. Gehen konnte sie schon lange nicht mehr. Und es durfte ihn niemand sehen. Was würden seine Untergebenen denken, wenn ein britischer Colonel zu einem Schamanen der Ojibwe ging? Er jedoch war inzwischen so verzweifelt, dass ihm jedes Mittel recht erschien. Vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder. Am selben Abend hüllte der Colonel seine Frau liebevoll in warme Decken. Beruhigend strich er ihr über die schweißnasse Stirn. Ihre Augen waren blicklos auf ihn gerichtet. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, Liebes. Ich bringe dich nun zu einem weisen Mann. Er ist meine letzte Hoffnung. Ich kann es nicht ertragen, dass du mich verlässt. Aber niemand darf uns sehen oder hören. Also bitte, wenn du mich verstehst, verhalte dich ruhig.«

Dann nahm er seine Frau in die Arme und hob sie hoch. Sie hatte viel an Gewicht verloren, aber für ihn wog sie unendlich schwer in seinen Armen. Er war sich nicht sicher, ob er das Richtige tat, aber er klammerte sich an diese letzte Hoffnung. Er wollte, dass es dem Alten gelingen würde, seine Elisabeth wieder gesund zu machen.   Als er den Treffpunkt erreichte, stand ein bleicher Mond am Himmel über dem Ufer des St. Lorenz Stroms. Peter James sah sich um. Der Alte hatte von einem tanzenden Zelt gesprochen, aber hier standen nur ein paar Baumstämme im Kreis, die mit Rinde und Fellen bedeckt waren. »Ja, das ist es, das tanzende Zelt meiner Vorfahren. Bist du sicher, dass du mir das Leben deiner Frau anvertrauen willst?« Peter James schluckte, dann nickte er. Seiner Stimme traute er im Augenblick nicht. Der Schamane hob ein Fell an und bedeutete ihm, er möge seine Frau in das Innere bringen und das tanzende Zelt wieder verlassen. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich die Pawaganak, die guten Geister deiner Frau, erreiche. Du musst nicht warten. Wenn du es doch tun willst, dann geh ans Ufer und bleib dort, bis ich dich rufe. Hier bist du nur im Weg.«    

Widerspruchslos ging der Colonel zum vom Mondlicht schwach erhellten Ufer des großen Stroms und setzte sich ins Gras. Lange Zeit geschah nichts. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem, was der Schamane als tanzendes Zelt bezeichnet hatte. Plötzlich schienen sich die zwei Meter hohen Baumstämme zu bewegen. Es sah unwirklich aus im Mondlicht, fast so, als tanzten die Stämme. Dann war es wieder still, unheimlich still.

Nach einer Zeit, die dem verzweifelten Engländer fast wie eine Ewigkeit erschienen war, kam der Schamane langsam zum Flussufer hinunter und setzte sich ebenfalls ins Gras. »Was ...?«Peter James sprang auf. »Setz dich», antwortete der Schamane. »Aber meine Frau ...« »Setz dich!» Die Stimme klang schärfer und ein wenig zornig. Peter James ließ sich wieder in das Gras fallen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. »Die Pawaganak haben deine Frau verlassen. Ich konnte nichts mehr für sie tun. Ihre Seele hat die Erde verlassen.« »Was soll das heißen?« Peter James schrie diese Frage in die Nacht. »Sie ist tot. Wenn du ihr noch einen letzten Dienst erweisen willst, bring sie nach Hause in das Land ihrer Väter, damit ihre Seele Frieden findet.«

Der alte Mann wollte sich erheben, aber Colonel James hielt ihn zurück. »Du hast sie umgebracht. Sie lebte, als ich sie dir brachte und du hast sie getötet.« Der Schamane schüttelte den Griff des Engländers ab. »Sie war schon lange tot. Sie hat noch geatmet, aber ihre Seele hatte den Körper längst verlassen. Du hast sie getötet, weil du sie gezwungen hast, hier zu leben, fern von ihrer Heimat, fern von ihren Kindern, die sie mehr geliebt hat als dich. Ich habe gar nichts getan.«  

Und dann war Peter James allein. Mit schweren Schritten näherte er sich dem Gebilde, dass der alte Indianer als das tanzende Zelt seiner Vorfahren bezeichnet hatte. Es wurde langsam hell und im Fort über ihm erwachte das Leben. Er würde seine Frau nicht ungesehen in sein Haus bringen können. Verzweifelt dachte er nach, was zu tun sei. Unmöglich war es für ihn zuzugeben, dass er den Weg zu diesem Schamanen gesucht hatte. Er verstand es jetzt auch überhaupt nicht mehr. Humbug war das und der Alte hatte seine Frau getötet. Immer wieder hämmerte er sich diesen Satz ins Bewusstsein. Und dann fiel ihm die Lösung für seine Probleme ein.  

Ohne noch einen Blick auf seine geliebte Frau zu werfen, rannte er zum Fort und schlug Alarm. Seine Frau sei von einem Indianer entführt worden, irgendwann in der Nacht. Er habe sie gesucht und gefunden, unten am Flussufer. Er sei sicher, dass der Indianer sie getötet hatte. Sofort machte sich eine berittene Einheit seiner Soldaten auf den Weg zum Dorf der Ojibwe und wenig später kamen sie zurück, den alten Schamanen hatten sie auf ein Pferd gefesselt.  

***  

Als Kommandant von Fort Henry hatte Colonel Peter James den Vorsitz als Richter bei der Gerichtsverhandlung gegen den alten Indianer. Formell wurde diesem ein Verteidiger aus den Reihen der Engländer zur Seite gestellt. Allerdings weigerte sich der alte Mann, irgendetwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Das Urteil von Colonel James wurde schnell gesprochen und war eindeutig.

»Anashibene vom Stamm der Ojibwe, du hast dich schuldig gemacht der Entführung und Ermordung von Elisabeth James. Im Namen ihrer königlichen Majestät, Königin Victoria, verurteile ich dich zum Tode. Du wirst morgen früh bei Sonnenaufgang auf dem Richtplatz am Halse aufgehängt, bis der Tod eintritt. Hast du uns noch etwas zu sagen?«  

Der alte Schamane erhob sich. Während der gesamten Gerichtsverhandlung hatte er stumm da gesessen und Peter James ins Gesicht gesehen. Nun erhob er seine Stimme.  

»Ja, ich habe dir etwas zu sagen, Peter James. Sonntag für Sonntag predigst du hier deinen Soldaten von eurem Gott, der Güte und Gerechtigkeit walten lässt unter denen, die an ihn glauben und der diejenigen bestraft, die sich an ihm versündigen. Aber die Güte und Gerechtigkeit deines Gottes, Peter James, sie ist nicht die deine. Du kamst zu mir, als dich die Hoffnung bereits verlassen hatte. Du brachtest sie mir, diese arme Frau, die sich vor Sehnsucht nach ihren Kinder verzehrte und es doch nie gewagt hat, sich dir zu widersetzen. Wo war sie, deine Güte und Gerechtigkeit, als deine Frau um ihre Kinder weinte?« Der alte Mann richtete sich kerzengerade auf und seine Stimme wurde hart. »Gehe heim in das Land deiner Väter, Peter James, und kehre niemals wieder an diesen Ort zurück. Denn ich sage dir, du und jeder, der zu deinem Geschlecht gehört, ist verflucht, sobald er seinen Fuß in das Land der tausend Inseln setzt. Ich, Anashibene vom Stamm der Ojibwe, verspreche dir: Jeder, der von deinem Blut ist, wird sterben auf grausame Art, wenn er an diesen Ort kommt, mag es morgen oder in tausend Jahren geschehen.«

Im Gerichtssaal herrschte eisiges Schweigen und Colonel James war blass geworden. Er sprang auf und deutete auf Anashibene, der ganz ruhig wieder seinen Platz eingenommen hatte. »Schafft ihn fort und bereitet die Exekution vor«. Seine Stimme klang kraftlos. Schweren Schrittes verließ er das Gerichtsgebäude.

In den Akten fand sich später der Vermerk:  

»Die Exekution von Anashibene, Schamane vom Stamm der Ojibwe, wurde im Morgengrauen des 10. Juli 1859 auf Veranlassung und durch das Urteil des Kommandeurs, Colonel Peter James vollstreckt. Der Leichnam des Delinquenten wurde außerhalb des Forts verscharrt.«  

Was beginnt wie ein historischer Roman, wird zu einem spannenden Krimi um den jungen kanadischen Studenten Duncan Bright, der an den Fluch des Shamanen der Ojibwe glaubt und dadurch in große Gefahr gerät.
 


 
»Aua!« Mühsam unterdrückte Jens Wischkamp einen lauten Aufschrei. Stattdessen fluchte er nur leise vor sich hin, um seine Freundin Silvie nicht zu wecken und rieb sich sein schmerzendes Schienbein. Dann tastete er sich weiter zum Badezimmer, öffnete die Tür und machte das Licht an. Er hatte sich wieder einmal im dunklen Flur von Silvies kleiner Wohnung an irgendeiner Kommode gestoßen. Diese Wohnung war einfach zu klein für zwei Personen. Er wohnte jetzt seit ein paar Wochen hier, aber noch immer hatte er nicht alle seine Sachen aus Unna herüber holen können. Es gab einfach nicht genug Platz. Er wusste, wie sehr Silvie diese kleine Mansardenwohnung in dem windschiefen Fachwerkhaus am Werner Roggenmarkt liebte, aber so ging es nicht weiter. Er würde heute Abend mit ihr reden müssen.   Nachdem er geduscht hatte, rasiert und gekämmt war, ging er in die kleine Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Als Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei in Unna konnte man sich seine Dienstzeiten nicht immer aussuchen. Er war von seinen Kollegen angepiept worden. Jetzt griff er zum Telefon und rief im Kommissariat an. Seine Kollegin Verena Schneider meldete sich. »Hallo, Jens. Gut, dass du anrufst, dann kannst du dir einen Weg sparen und gleich von Werne zum Tatort fahren. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon unterwegs, der Gerichtsmediziner auch.« »Hört sich nicht gut an, was ist denn überhaupt passiert und wo?« »Also, vor ungefähr einer Stunde hat die Notrufzentrale einen anonymen Anruf bekommen, dass es in der Nähe vom Schloss Nordkirchen eine Schießerei gegeben haben soll. Wir haben eine Streife hingeschickt, aber die Kollegen konnten nichts Auffälliges feststellen. Kurz darauf rief uns dann ein Landwirt aus Capelle an, dass am Rand seines Feldes ein Toter liegt. Mehr weiß ich bisher auch noch nicht. Am besten fährst du rüber und machst dir vor Ort selbst ein Bild. Eine Mordkommission haben wir vorsorglich eingerichtet.« »Okay, danke Verena. Ich mache mich gleich auf den Weg. Du kannst die Kollegen informieren, dass ich in etwa zwanzig Minuten da sein werde.«  
Schnell schrieb Hauptkommissar Wischkamp noch eine Notiz für seine Freundin, dann verließ er so leise wie möglich die Wohnung. Sein Wagen stand etwa fünf Gehminuten weg an der B54 und wie versprochen dauerte es kaum zwanzig Minuten, bis er das Feld zwischen Capelle und Nordkirchen erreichte. Das Areal war weiträumig abgesperrt, die Kollegen hatten Scheinwerfer aufgestellt, so dass der gesamte Feldweg hell erleuchtet war. Jens zückte seine Marke, um sich auszuweisen, dann duckte er sich unter dem Absperrband durch und ging auf den Gerichtsmediziner zu.
 »Morgen, Doc. Hast du schon was?« Dr. Gerd Leinemann, der zuständige Gerichtsmediziner, hob den Kopf. »Nicht viel. Der Mann ist erschossen worden, aber ganz sicher nicht hier.« Dr. Leinemann deutete auf die Lage des Leichnams und die Schleifspuren. »Ich bin sicher, dass er hierher geschleift und dann hier abgelegt wurde. Hier ist viel zu wenig Blut. Um den Tatort näher bestimmen zu können, müssen die Kollegen das Gebiet bei Tagesanbruch absuchen. Vielleicht solltet ihr eine Hundestaffel anfordern.« Jens Wischkamp nickte. »Todeszeitpunkt?«, fragte er. Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Vor circa ein bis zwei Stunden, würde ich sagen. Er wurde von drei Kugeln getroffen. Die erste durchschlug seinen Oberschenkel, die zweite trat unter der zweiten Rippe ein und am Rücken wieder aus. Beide waren aber nicht tödlich, obwohl er ohne rechtzeitige Hilfe sicher daran verblutet wäre. Aber der Täter hat ihn anschließend mit einem Genickschuss sozusagen hingerichtet. Alles Weitere dann nach der Obduktion. Die Fotos sind gemacht. Kann ich ihn wegbringen lassen?« Jens Wischkamp hatte sich hingehockt und sah dem Toten ins Gesicht. Der Mann war Anfang dreißig.
»Hatte er Papiere bei sich?«, fragte er. Dr. Leinemann schüttelte den Kopf. »Keine Brieftasche, keine Ausweispapiere, kein Geld. Könnte ein Raubmord gewesen sein. Und wenn du mich fragst, der ist nicht von hier.  Sieh dir sein Gesicht an. Die hohen Wangenknochen, die dunkle Hautfarbe, die schwarzen Haare. Ich würde meinen, der Mann hat zumindest slawische Vorfahren. Vielleicht findet ihr ja was in eurer Datenbank, Fingerabdrücke haben die Kollegen bereits abgenommen. Ich werde auch noch ein DNA-Profil erstellen lassen, sobald ich ihn in der Pathologie habe.«
Hauptkommissar Wischmann erhob sich und gab die Leiche zum Abtransport frei. Dann wandte er sich an einen Kollegen vom Team der Spurensicherung. »Habt ihr schon irgendetwas gefunden, was uns weiterhelfen kann?« Der Beamte deutete nickend  auf den Feldweg. »Da sind Reifenspuren, von einem großen Geländewagen, würde ich mal tippen. Wir haben Gipsabdrücke genommen, damit müsste sich zumindest der Reifentyp feststellen lassen. Außerdem haben wir auf dem Feldweg etwa 150 Meter von hier an einem Gebüsch jede Menge Zigarettenkippen gefunden. Für mich sieht das so aus, als hätte da jemand gewartet. Kann natürlich auch Zufall sein, aber wir haben sie mitgenommen. Da ist bestimmt DNA-fähiges Material dran.« Hauptkommissar Wischkamp nahm sein Handy und rief die Kripo in Unna an. Wieder meldete sich Verena Schneider. »Hallo, Schneiderlein. Schick bitte Suchtrupps und eine Hundestaffel. Wir haben eine männliche Leiche gefunden, Fotos und Fingerabdrücke sind schon zu euch unterwegs. Der Leichenfundort ist nicht identisch mit dem Tatort, wir müssen das ganze Gelände hier zwischen Capelle und Nordkirchen absuchen. Vielleicht finden wir irgendwo Patronenhülsen. Und lass dir bitte schon mal die Bandaufzeichnung von dem anonymen Anruf kommen, den möchte ich mir nachher noch anhören. Sobald du die Fotos und die Fingerabdrücke hast, jag sie bitte durch den Computer. Du solltest in Betracht ziehen, dass unser Toter vielleicht aus dem östlichen Ausland stammt, also auch die Kollegen in Russland, Polen, Tschechien und so weiter bitte mit einbeziehen. Ich rede jetzt noch mit dem Zeugen, der die Leiche gefunden hat und komme dann rüber zu euch.«

Leseprobe aus "Auf Herz und Nieren",
erscheint im September 2010 im Autoren-Feder Verlag

  Schweiß rann ihm in Bächen den Rücken herunter. Gehetzt blickte er in den Rückspiegel. Sie würden ihn suchen, das wusste er genau. Er wusste nicht, wer sie waren. Aber sie hatten ihn dort gesehen. Sie hatten das Auto gesehen, mit dem er abgehauen war, Werners Auto. Und nun war er sicher, sie waren hinter ihm her. Dabei war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. In seinem Leben ging aber auch alles schief. Er konnte noch immer nicht richtig durchatmen. Seine Panik hatte ihn fest im Griff.     
Im Augenblick konnte er jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Seine Hände umklammerten noch immer verkrampft das Lenkrad. Vorsichtig versuchte er, sich zu entspannen. Es wurde langsam dunkel und hier, zwischen den großen Lkws auf dem Autobahnparkplatz Overberger Busch, auf der A1 kurz vor dem Kamener Kreuz, fühlte er sich für den Augenblick einigermaßen sicher.     
Er lehnte sich vorsichtig zurück und schloss die Augen. Sein Atem ging noch immer stoßweise, das Adrenalin peitschte seinen Blutdruck in die Höhe. Ihm wurde schwindelig. Er riss die Augen sofort wieder weit auf.  »Jetzt nur nicht schlappmachen, alter Junge«, dachte er.     
Er musste nachdenken. Gefolgt waren sie ihm offensichtlich nicht. Solange er hier auf dem Parkplatz stehen blieb, würde ihm nichts passieren. Aber er konnte ja nicht ewig hier stehen bleiben. Nach Hause, zu seinen Eltern, wollte er nicht, da würden sie zuerst nach ihm suchen. Falls sie überhaupt wussten, wer er war. Aber durfte er sich darauf verlassen, dass sie es nicht wussten? Fieberhaft überlegte er, wie es weitergehen sollte.     
Er könnte zur Polizei gehen. Aber würden die ihm glauben, dass er mit der ganzen Sache rein gar nichts zu tun hatte? Wahrscheinlich nicht. Denn dass er abgehauen war, machte ihn ja auch nicht gerade unverdächtiger. Aber was hätte er denn tun sollen? Die Wohnungstür war offen gewesen. Da lag Werner und alles war voller Blut. Er war so blöd gewesen, das Messer hochzuheben. Da waren jetzt seine Fingerabdrücke drauf. War sowieso nur eine Frage der Zeit, bis auch die Bullen hinter ihm her wären.     
Dann hatte er gespürt, dass er nicht allein in der Wohnung war. Er hatte es mit der Angst zu tun bekommen, Werners Autoschlüssel vom Haken gerissen und fluchtartig die Wohnung verlassen. Auf der Treppe hatte er sie gehört, aber er war schneller. Werners Golf stand direkt vor der Tür. Im Rückspiegel hatte er noch die zwei Gestalten gesehen. Einer von ihnen hatte eine Waffe in der Hand. Kurz bevor er um die Straßenecke gebogen war, hatte er gesehen, dass sie auf ihr Auto zustürzten. Sie hatten Werner umgebracht und er hatte sie gesehen. Sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Er war in Werne aufgewachsen und kannte hier jede noch so kleine Gasse. Mit fast 100 Sachen war er durch die dreißiger Zone in der Berliner Straße gerast. Die rote Ampel hatte er ebenso ignoriert wie das Quietschen und Kreischen, als der alte Golf über die Barrieren dieser verkehrsberuhigten Zone jagte. Er wollte zur Autobahn und nur noch weg. Immer wieder hatte er in den Rückspiegel gesehen, aber da war nichts. Er hatte sie offensichtlich abgehängt. Und dann hatte er endlich die Autobahn erreicht. Der Schweiß brannte in seinen Augen und er hatte gewusst, dass er so nicht weiterfahren konnte. Er musste sich beruhigen. Endlich kam dieser Parkplatz. Hier war er erst einmal in Sicherheit.       
Erst heute früh war er aus der JVA Aachen entlassen worden, wo er sechs Jahre wegen schweren Raubes abgesessen hatte. Er hatte Werner angerufen und der hatte sofort gesagt:         
»Klar, komm her. Kannst für ein paar Tage hier pennen, bis du was gefunden hast. Zu deinen Eltern willst du ja wohl nicht, was?«     
Ihm war klar gewesen, dass Werner ihm helfen würde. Schließlich hatten sie den Bruch zusammen gemacht, aber er hatte Werner nicht verpfiffen. Wieso hätten sie auch beide sitzen sollen? Blöd war damals nur, dass die Bullen bei ihm auch die gesamte Beute gefunden hatten. Startkapital hatte er also nicht. Aber Werner würde sicher was einfallen. Werner fiel doch immer was ein.     
Und dann war alles so ganz anders gekommen. »Was für ein beschissener Tag«, fluchte er vor sich hin.   ...  

»Und was machen wir jetzt?»     
Armin Wiefels sah sein Gegenüber an. Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich. Das ist alles ziemlich Scheiße gelaufen heute. Wieso hat der Penner uns nicht gesagt, was wir wissen wollten?« »Ach ja, und wieso hast du ihm einfach das Messer in den Bauch gerammt?«    
Hämisch grinsend sah Martin Breisbach seinen Komplizen an. »Es hat mir Spaß gemacht, ich wollte sein Blut sehen. War der Idiot doch selber schuld. Und schießen konnte ich ja nicht, das hätten die Nachbarn sofort gehört und die Bullen gerufen.« Armin lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Dass Martin gewalttätig war, wusste er. Aber diese kalte Mordlust, die er heute früh in Werner Meiers Wohnung in Werne-Stockum in den Augen des Anderen gesehen hatte, hatte ihn erschreckt. »Und wie sollen wir dem Boss jetzt erklären, dass wir nicht ein Stück weitergekommen sind?«    
 Martin zuckte mit den Schultern. »Ich lass' mir schon was einfallen. Der Meier hatte eine Freundin und ich weiß, wo wir die finden. Wir nehmen uns die Kleine mal vor. Die weiß bestimmt, wo Meier die Unterlagen versteckt hat, die der Boss so dringend haben will. Falls er sie überhaupt schon hatte. Schließlich hat der Idiot das Verhältnis mit der Kleinen doch nur angefangen, um in der Wohnung ihrer Eltern ungestört nach diesen verfluchten Unterlagen suchen zu können. Sie wird schon wissen, wie wir da ran kommen. Und sie wird es uns sagen, das kannst du mir ruhig glauben. Ich bin wirklich gut im Überreden.« Wieder zog dieses grausame Grinsen über Martins Gesicht.     
»Aber wenn er sie noch gar nicht hatte, oder wenn sie nichts sagt, willst du sie dann auch umbringen?« »Zeugen können wir nicht gebrauchen, Kleiner. Ich weiß schon, was ich tue.« »Apropos Zeugen, was ist denn mit dem Typen, der in der Wohnung war heute Mittag?«    
 Martins Gesicht verfinsterte sich.     
»Den müssen wir auch noch finden. Ich glaube zwar nicht, dass er uns erkennen würde, und dass er das Messer in die Hand genommen hat, war ziemlich blöd von ihm. Da sind jetzt nur seine Fingerabdrücke drauf. Aber wir können es trotzdem nicht riskieren, dass er zu den Bullen geht.« »Und wie willst du das verhindern? Wir wissen doch gar nicht, wer das war.«    
 Martin Breisbach grinste und griff in seine Jackentasche. »Das nicht. Aber ich habe die Autonummer und ich habe da jemanden, der mir helfen wird, die Karre zu finden. Alles nur eine Frage der Zeit. Und jetzt hör’ auf, dämliche Fragen zu stellen. Wir müssen unbedingt die Kleine von dem Typen finden. Ihre Adresse habe ich. Wir fahren da jetzt hin, und wenn die Gelegenheit günstig ist, schnappen wir sie uns. Um den anderen Kerl können wir uns dann immer noch kümmern.«